von Dr. Thilo Sarrazin
Statement auf der Pressekonferenz am 27. Oktober 2025 in Zürich
Historisch gesehen bin ich als Jahrgang 1945 recht unbekümmert im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen. Probleme mit der Meinungsfreiheit habe ich jahrzehntelang nur
• in glücklicherweise untergegangenen Diktaturen,
• in der damals so genannten Dritten Welt
• und natürlich jenseits des Eisernen Vorhangs
verortet.
Natürlich gab es ein paar Radikale unter den Achtundsechzigern, die die Systemfrage stellten, aber die nahm ich nie so richtig ernst, und der Terror der RAF war zwar schrecklich, aber doch so abstrus und abseitig, dass ich ihn auch als Gefahr für die Demokratie nicht so richtig ernstnehmen konnte. Das Klima, in dem ich aufwuchs, war liberal. Mein jugendliches Umfeld erstreckte sich von Atomkraftgegnern, Pazifisten und Ostermarsch-Teilnehmern über Deutschnationale bis hin zu konservativen Katholiken.
Der historische Zufall führte mich 1973 im Alter von 28 Jahren in die SPD, und dort fühlte ich mich 37 Jahre lang bis 2010 auch sehr wohl. Liberale Ökonomen und sparsame Haushälter, wie ich einer war, taten dem Profil der Partei gut und bildeten einen notwendigen Ausgleich zum starken und ausgabefreudigen Sozialflügel der Partei. Mit genau diesem Profil hatte ich auch als Berliner Finanzsenator von 2002 bis 2009 großen Erfolg.
2011 erschien dann mein Buch Deutschland schafft sich ab. Dort legte ich – von allen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten befreit – die Sonde an die deutsche Gesellschaft tiefer an.
Dabei traf ich insbesondere auf den Feldern
• Demographie,
• Migration,
• Verfall von Bildung und Intelligenz
tiefsitzende gesellschaftliche Schmerzpunkte, die zu einer Debatte von beispielloser Heftigkeit führten. Seitdem bin ich für große Teile des linksliberalen Mainstreams und auch für große Teile meiner ehemaligen Partei, aus der ich 2020 endgültig ausgeschlossen wurde, das berühmte rote Tuch.
Das trug und trage ich mit Fassung. Meine Erlebnisse bewirkten allerdings, dass ich mich mit dem Thema Meinungsfreiheit vertieft befasste, daraus entstand 2014 das Buch Der neue Tugendterror.
Das Problem mit der Meinungsfreiheit in einer Gesellschaft besteht darin, dass sie als gesellschaftliches Regulativ nur funktioniert, wenn sie von allen Seiten des gesellschaftlichen und politischen Spektrums gleichermaßen ernst genommen wird. Das ist aber leider nicht der Fall.
Ernst genommen wird die Meinungsfreiheit nur von klassischen Liberalen und einem Teil der konservativen Bürger. Für viele ist dagegen die Meinungsfreiheit nur ein Wert, wenn es um die eigenen Meinungen und um jene Meinungen geht, die der eigenen irgendwie ähnlich sind.
So beklagen in Deutschland nach einer aktuellen Allensbach-Umfrage zwar 44 Prozent der Befragten, dass man seine politische Meinung nicht frei äußern könne. 1991 beklagten sich darüber nur 16 Prozent. Gleichzeitig aber sprach sich die Hälfte der Befragten auch dafür aus, dass die Äußerung bestimmter Meinungen verboten werden solle. Sie fordern zwar Meinungsfreiheit für sich selbst, wollen sie aber nur für ihnen genehme Meinungen gelten lassen. Das ist eine für eine lebendige Demokratie gefährliche Tendenz.
Die Ursachen für diese bedenkliche Entwicklung sind sicher komplex. Ein Element will ich herausgreifen: Das ist eine wachsende Tendenz, den eigenen Standpunkt moralisch zu überhöhen und die Vertreter anderer Meinungen oder anderer Blickwinkel moralisch abzuqualifizieren.
Ich habe lange darüber nachgedacht, was die Quelle der unfassbaren Wut war, die vor 15 Jahren mein Buch Deutschland schafft sich ab auslöste. Folgendes habe ich als Quelle ausgemacht: Ich setzte nicht nur implizit voraus, sondern es wurde auch Teil meiner Argumentation, dass der Mensch ganz wesentlich von seiner Herkunft geprägt wird, weil nämlich viele Eigenschaften, Fähigkeiten und Charakterzüge überwiegend erblich sind.
Damit setzte ich mich in Gegensatz zur herrschenden modernen Diesseits-Religion. Diese lautet kurzgefasst, dass die Menschen nicht nur gleiche Rechte haben, sondern tatsächlich so gleich sind, dass nahezu jeder alles werden kann, wenn er nur die gleichen Chancen hat und durch eine böse Umwelt nicht daran gehindert wird. Unterschiede im Lebenserfolg werden damit moralisiert. Jeder, der nicht gleich genug ist, gerät unter einen gesellschaftlichen Generalverdacht.
Unterschiede aller Art sind aus dieser Sicht nicht naturgegeben, sondern werden sämtlich zu einer Frage der sozialen Gerechtigkeit und damit zu einer moralischen Frage.
Die verheerenden Folgen dieses Denkens sehen wir z. B. beim fortgesetzten Leistungsabfall an deutschen Schulen, aber auch an den Auswüchsen der Gender-Debatte, wonach sogar das Geschlecht nicht biologisch bestimmt ist, sondern eine Frage der sozialen Wahl sein soll.
Wer seine Position – zu welcher Sache auch immer – nicht empirisch und logisch hinterfragen will, schützt sich gern gegen Kritik, indem er seinen Standpunkt zu einer Frage der Moral erhebt. Die Ausbreitung solchen Denkens führt dazu, dass sich die expliziten und impliziten Feinde einer gesellschaftlich wirklich gelebten Meinungsfreiheit in der Gesellschaft insgesamt auf dem Vormarsch befinden.
Die Andersmeinenden werden damit zu moralisch Minderwertigen. Das ist seit Jahrtausenden die Quelle aller Religionskriege. Elemente solcher Religionskriege sehen wir eben auch bei Klima-Fragen, Gender-Fragen oder bei der Einstellung zu kulturfremder Massenmigration.
Natürlich habe zum Beispiel ich – wie auch andere – in allen diesen Fragen eigene, vermutlich für viele kontroverse Standpunkte. Diese tun aber an dieser Stelle nichts zur Sache. Funktionieren kann eine liberale, demokratische Gesellschaft nur, wenn man die Vertreter anderer Meinungen als Menschen respektiert und sich in der Sache mit ihnen auseinandersetzt, ohne sie moralisch in eine Ecke zu schieben.
Das hört sich einfach an, ist aber offenbar sehr schwer. Diese grundliberale Haltung befindet sich nämlich gegenwärtig gesellschaftlich auf dem Rückzug, und darum braucht es Gegenbewegungen wie den Leonhard-Kreis.