Leonhardkreis

Oktober 27, 2025

Candide, die Inquisition und die Immunisierung des Geistes

von Radu Golban

Wenn Voltaire heute lebte, hätte er kein einziges Podium mehr. Er wäre längst gecancelt – wegen Sarkasmus, Mansplaining und vermutlich auch wegen kultureller Aneignung.

Sein Candide hätte keine Chance beim Feuilleton – zu verletzend, zu maskulin, zu unkorrekt.

Und doch war es genau dieser verletzende Witz, der Europa einmal befreit hat.

Voltaire wusste: Wo Lachen verboten ist, fängt die Diktatur an. Und das war nicht bloss eine Pointe, sondern eine Erkenntnis über die Struktur der Macht.

Denn Macht beginnt nicht mit Gewalt, sondern mit Empfindlichkeit. Zuerst darf man etwas nicht mehr sagen, dann nicht mehr denken – und am Ende wird man, wie Candide, von der Inquisition abgeführt.

Nur tragen die Inquisitoren heute keine Kreuze mehr, sondern Hashtags. Sie sitzen nicht in Rom, sondern auf Redaktionsservern. Und sie brauchen kein Feuer mehr – der digitale Pranger ist effizienter, geruchlos, moralisch steril.

Wir leben in einer Zeit, die sich selbst für aufgeklärt hält, aber kaum noch erträgt, wenn jemand eine Frage stellt. Eine Zeit, in der Meinungsfreiheit zwar gefeiert, aber immer öfter mit Fussnoten versehen wird: „Freiheit ja – aber bitte nicht so.“

Hier schliesst sich der Kreis zum italienischen Philosophen Roberto Esposito. Er nennt das die Immunisierung der Gesellschaft. Ein Prozess, in dem alles, was stören, irritieren oder anstecken könnte, aus dem sozialen Körper entfernt wird. Wie ein Virus. Kritik wird zum Krankheitserreger, Ironie zum Symptom, und Dissens zur seelischen Gefahr.

Was entsteht, ist eine Gesellschaft im permanenten Fiebermessen: temperiert, moralisch desinfiziert, aber leblos. Denn wer alles kontrollieren will, verliert irgendwann die Fähigkeit zu leben. Oder, wie Esposito sagt: „Übermässiger Schutz tötet das, was er schützen will.“

Ich sage das nicht theoretisch. Ich bin im kommunistischen Rumänien aufgewachsen. Dort war es selbstverständlich, über Politik Witze zu machen – selbst die Securitate erzählte sie. Humor war Überlebensstrategie, Ventil, Tarnung und Mutprobe zugleich.

Zwölf Jahre nach meiner Flucht, an der Universität in Basel, erzählte ich einem Kommilitonen einen politisch – wie man heute sagen würde – inkorrekten Witz. Wir fuhren im Auto, wollten etwas essen. An der nächsten Ampel stieg er aus. Er meinte, solche Witze dürfe man nicht erzählen.

Aus heutiger Sicht war der Witz nicht gut – aber die Reaktion war schlechter. Ich habe in einer Diktatur gelernt, dass man mit Witzen leben kann. In einer freien Gesellschaft musste ich lernen, dass man mit ihnen Menschen verlieren kann. Und da wurde mir klar: Eine intolerante Kultur braucht keine Zensurbehörde. Sie zensiert sich selbst.

Voltaire hätte darüber gelacht – bitter, aber befreiend. Er hätte gesagt: „Wenn die Menschen nicht mehr denken dürfen, glauben sie eben an Moral.“ Und das ist gefährlicher als jeder Dogmatismus, weil Moralismus immer das Kostüm des Guten trägt, während er den freien Geist stranguliert.

Deshalb ist es so wichtig, dass wir heute hier sind. Nicht, um die „bessere Meinung“ zu vertreten – sondern um das Recht auf Meinung zu verteidigen. Nicht, um uns weiter zu immunisieren gegen Kritik, sondern um das Risiko des offenen Wortes wieder zuzulassen.

Das lateinische munus – der Ursprung von Communitas – so der italienische Philosoph, bedeutet „Geschenk“ und „Verpflichtung.“ Gemeinschaft entsteht, wenn man etwas gibt, nicht wenn man sich abschottet. Wer immun ist, bleibt unberührt. Wer teilt, wird verwundbar – aber genau darin liegt das Menschliche, das Politische, das Lebendige.

Vielleicht, meine Damen und Herren, brauchen wir weniger Debatten über Grenzen und mehr Mut zur Durchlässigkeit. Weniger „Safe Spaces“ – und mehr Spaces for Sense. Denn die Welt wird nicht sicherer, wenn man sie desinfiziert, sondern leerer.

Voltaire liess Candide am Ende sagen: „Wir müssen unseren Garten bestellen.“ Das klingt harmlos, ist aber revolutionär. Es bedeutet: Handeln statt jammern. Den eigenen Verstand pflegen statt ihn delegieren. Freiheit kultivieren wie eine Pflanze, die ständig bedroht ist – von Wetter, von Ideologie, von Fürsorge.

Und wenn jemand sagt, das sei zu gefährlich, dann antworten wir: Ja. Freiheit ist gefährlich. Aber eine Gesellschaft, die sich gegen jede geistige Infektion impft, endet in der geistigen Quarantäne.

Darum sind wir hier – nicht als Immunreaktion auf die Zeit, sondern als Angebot zur Gemeinschaft. Nicht um zu sagen: „Wir haben recht,“ sondern um zu zeigen, dass Denken ohne Risiko keine Zukunft hat.

Oder, wie die britische Schriftstellerin Evelyn Beatrice Hall, welche die Voltaire Biografie schrieb, als Paraphrase seiner Geisteshaltung zutreffend formulierte:

“I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it.”

„Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht – aber ich verteidige bis zum Tod Ihr Recht, Unsinn zu reden.“

Ich danke Ihnen.

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